„Komm nach Hagen, werde Pop-Star“

Um die Neue Deutsche Welle ging es im Lüdenscheider Gespräch mit dem FernUni-Soziologen Prof. Frank Hillebrandt und Heike Wahnbaeck, die damals Teil der Hagener Musikszene war.


„Komm nach Hagen, werde Pop-Star“: Dieser Songtitel der Hagener Band „Extrabreit“ brachte die Bedeutung, die die Industriestadt am Rande des Ruhrgebiets für die deutsche Musikszene zeitweise hatte, auf den Punkt. Mit ihrem Vortrag „‚Keine Atempause, Geschichte wird gemacht …‘ Die Neue Deutsche Welle in Hagen“ zeichneten Frank Hillebrandt und Heike Wahnbaeck beim letzten Lüdenscheider Gespräch des Jahres 2017 ein komplexes Bild der Pop- und Kulturszene in den 1970er und 1980er Jahren. Dass sich viele auch heute noch gerne an diese Zeit erinnern, zeigte das Publikum aus „NDW“-Fans und „nachgeborenen“ Interessierten. Viele Fotos und mehrere Videoeinspielungen ließen die damalige Zeit greifbar werden. Veranstalter war das Institut für Geschichte und Biografie der FernUniversität.

Ein Mann und eine Frau Foto: FernUniversität
Prof. Frank Hillebrandt und Heike Wahnbaeck nahmen das Publikum mit auf die Reise in die musikalische Vergangenheit der Region Hagen.

Prof. Dr. Frank Hillebrandt befasst sich mit der neuen Musikwelle, die um 1980 herum für die kulturelle Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland und der kulturellen Identität der Region Hagen und Südwestfalen ganz erhebliche Bedeutung hatte. Er sucht mit seinem Team im Lehrgebiet Allgemeine Soziologie und Soziologische Theorie an der FernUniversität in Hagen Antworten auf die Fragen, wie und warum sich eine solche Musikszene ausgerechnet in Hagen bilden konnte. Und, allgemeiner: Wie kann sich überhaupt eine neue Musikrichtung in der Pop-Musik etablieren?

Heike Wahnbaeck war in den 1970er und 1980er Jahren als Ehefrau von Wolfgang Jäger, den die (regionale Musik-)Welt nur als „Hunter“ kannte, mittendrin in der Szene, aus deren Innenleben sie nun spannende Einblicke vermittelte. Heute ist sie ist Kuratorin einer NDW-Ausstellung, die im Jahr 2018 im Hagener Karl Ernst Osthaus Museum zu sehen sein wird. Fest machte sie die damaligen Entwicklungen vor allem an Biografien der Beteiligten, die sie kannte und oft noch immer kennt, und an vielen eigenen Fotos.

Ihr Ehemann „Hunter“ war vor der Neuen Deutschen Welle Bassist bei der Hagener Band „Grobschnitt“, damals zeitweise die beliebteste deutsche Formation. Von diesen Krautrockern ging er zu den „Stripes“ (wo Nena „Frontfrau“ war), dann zu „Extrabreit“. Heike Wahnbaeck erinnert sich: „Es gab einen Pool von Musikern, die sich auch immer wieder ausgetauscht haben.“ Besonders wichtig war dabei die damals sehr rege Kneipenszene in Hagen. Die Wechsel der Musiker von einer Band zu anderen „wurden am Tresen ausgehandelt“. So profitierten die Bands auch voneinander.

Zwei Personen stehen neben einer Leinwand, auf der zwei Fotos zu sehen sind. Foto: FernUniversität
Nena (auf dem linken Foto) zu Beginn ihrer Karriere als Frontfrau der Band "The Stripes" in Hagen: Heike Wahnbaeck dokumentierte die damalige Musikszene mit ihrer Kamera. Neben ihr Prof. Frank Hillebrandt. (Foto: FernUniversität)

Bruch mit allen Konventionen

Frank Hillebrandt zeigte zunächst kurz die (Vor-)Geschichte von Rock und Pop auf: Interessant war, dass sie nicht wieder verschwanden und es immer wieder neue Ausformungen gab und gibt. Eine davon war von 1978 bis 1984 eben die New-Wave-Welle. Der Soziologe: „Es ist für Rock und Pop sehr wichtig, dass immer wieder etwas Neues in die Welt kommt, haben wir herausgefunden. Denn würde immer wieder dasselbe reproduziert, wäre es nicht mehr interessant und würde aufhören.“

Über ihre Musik hinaus brach die NDW in mehrfacher Hinsicht mit den bisherigen Konventionen der Popmusik: mit sinnfreien Texten (Trios „Da Da Da“) einer- wie mit sozialkritischen Inhalten („Bruttosozialprodukt“ von „Geier Sturzflug“) andererseits. Gleiches gilt für die Gestaltung von Plattencovern und Plakaten, oft in Comic-Manier.

Eine große Rolle für den Erfolg der NDW spielt nach Hillebrandts Erkenntnis der „subkulturelle Aspekt“. Die subkulturelle Post-Punk-Szene wollte mit dem Mainstream nichts zu tun haben – und doch wurde sie zum absoluten Mainstream. Diese Popularisierung wiederum ebnete „Extrabreit“, „Nena“ und den anderen NDW-Stars bundesweit den Weg. Auch Nena – als Gabriele Susanne Kerner ist sie nahezu unbekannt – hatte ihre Wurzeln unter anderem in Punk und Rockabilly. Als NDW-Ikone trat sie dann in der ZDF-Hitparade auf und war mehrfach auf dem „Bravo“-Cover abgelichtet. Im Gegensatz zur Öffentlichkeit fühlten die „Extrabreiten“ sich selbst gar nicht als NDW-Teil, sondern als Deutsch-Rocker und Post-Punker. Doch bereiteten gerade sie durch ihre kommerziellen Erfolge der „Welle“ den Weg.

Nena ist für Hillebrandt das Beispiel dafür, wie aus einer punkigen Rockkultur-Subszene ein Pop-Star erwachsen kann. Was sie auszeichnete, war nicht zuletzt die eigene Überwältigung vom Erfolg, „ihre Gänsehaut nehme ich ihr ab“, so Hillebrandt. Gleichzeitig war Nena durch die Hagener Szene aber Profi. Hillebrandt: „Sie kann bis heute auf der Bühne jede und jeden mitreißen. Das hat wohl viel damit zu tun, dass sie in Hagen schon ein regionaler Pop-Star war. Hier gab es die Verbindungen, die sie auf die Bühne brachten.“

Auf einer Leinwand sind mehrere Fotos von Gruppen der Neuen Deutschen Welle zu sehen. Foto: FernUniversität
Nicht nur mit ihrer Musik, sondern auch mit ihrem Äußeren, ihrem Verhalten und mit Plattencovern und Plakaten brachen die Künstlerinnen und Künstler mit den Konventionen des Musikgeschäfts.

Besondere Infrastruktur in Hagen

Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre gab es in der Stadt ein musikalisches Netzwerk, „eine Szene, die man für unmöglich gehalten hätte – ‚Grobschnitt‘, ‚The Ramblers‘, ‚The Stripes‘, ‚Extrabreit‘, ‚Kein MenscH!‘, ‚Tirami Su‘... Warum es diese regionale Konzentration in Hagen gab, wollen wir jetzt klären“, so Hillebrandt weiter. Eine wichtige Rolle dürfte die spezielle Infrastruktur dort gespielt haben, stellte Hillebrandts Lehrgebiet in Übereinstimmung mit Heike Wahnbaeck bereits fest: Szenetreffs, Discotheken und Proberäume, Tonstudios, Musikverlage und ein lokales Label, das erste Veröffentlichungen ermöglichte. Hilfreich waren auch lokale Printmedien, die für die Wahrnehmung der Bands in der Region sorgten. Zudem gab es mehr Auftrittsmöglichkeiten als in anderen Städten: In Jugendzentren und Jugendtreffpunkten, Schulen, Gemeindezentren und Clubs konnten die Bands erste Erfahrungen sammeln und, was ausgebildetes technisches Personal und Bühnentechnik angeht, auf die Infrastruktur der bereits etablierten Band Grobschnitt zurückgreifen.

Personen verschiedenen Alters sitzen in einem Saal. Foto: FernUniversität
Gespannt verfolgte das Publikum den Vortrag.

Nicht nur „Nena“ und „Extrabreit“

Auch der Weg von Nena begann in einem Hagener Jugendzentrum. Über einen Plattenvertrag und eine kaum verkaufte LP führte er zur Auflösung der „Streifen“. Nena und ihr Schlagzeuger Rolf Brendel gingen nach Berlin. Dort gab es nach den Worten Hillebrandts bereits eine Szene, die schon durch die Schwestern Annette und Inga Humpe aus der Region Hagen vorbereitet war, die nun populär wurde und zu der sie Zugang hatten. Mit Carlo Karges – zuvor unter anderem bei den „Ramblers“ und „Extrabreit“ – gründete sie die Band „Nena“, berichtete Heike Wahnbaeck weiter.

Dabei waren Nena und „Extrabreit“ nicht der einzigen NDW-Stars aus der Region Hagen, so die Referentin weiter. Sie kam auch auf Inga und Annette Humpe zu sprechen die mit mehreren NDW-Bands – wie „Ideal“ und „DÖF“ – auf der Welle ritten. Zwar wuchsen sie in der Nachbarstadt Herdecke auf, jedoch gehörten sie zum Hagener Stadtbild und waren eng befreundet mit „Extrabreit“. Annette Humpe hat, heute vor allem als Produzentin, in vielen Bereichen der deutschen Popmusik noch immer einen immensen Einfluss.

Gerd Dapprich | 29.11.2017