Eine wahre Geschichte über das Erzählen

Heinrich Jung-Stilling, ein südwestfälischer Geschichtenexporteurs

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Doppelportraet der Brueder Wilhelm Grimm-links-und Jacob-Grimm von Elisabeth Jerichau-Baumann 1855.jpg

„Den Stilling aber endlich bekommen" - Wie ein Hilchenbacher zu den Brüdern Grimm kam

 

Lieber Wilhelm,
soeben erhalte ich Deinen Brief vom 10. und antworte dir gleich. […] Sind dort keine neuen Kindermärchen? Die von Grimm habe ich immer noch nicht, den Stilling aber endlich bekommen. 

Jacob Grimm an seinen Bruder Wilhelm Grimm, derzeit bei seinem Kuraufenthalt in Halle a.d. Saale verweilend (Briefwechsel zwischen Jacob und Wilhelm Grimm aus der Jugendzeit; Weimar 1881, Brief Nr. 82, S. Z. 2 und S. 84, Z. 7 + 8)*

Wer ist dieser "Stilling"?

Wie man sieht, neigen auch berühmte Germanisten und Märchenforscher beim vertraulichen Briefwechsel, der natürlich ursprünglich nicht für die Öffentlichkeit gedacht war, zu etwas lockeren Formulierung. Mit „Stilling“ meint Jacob Grimm mitnichten eine spezielle Weinsorte oder einen guten Bekannten, wie man auch vermuten könnte, sondern die Lebensbeschreibungen des gebürtigen Siegerländers Johann Heinrich Jung, genannt Stilling, einst Dorflehrer in Hilchenbach und mittlerweile Großherzoglicher Badischer Geheimrat. Da eine Autobiografie eine sehr persönliche Abhandlung ist, nach deren eingehender Lektüre man die Auffassung vertreten könnte, den Verfasser genau(er) zu kennen, könnte der „Stilling“ möglicherweise vertraulich gemeint sein.

Wahrscheinlicher ist, dass die Bezeichnung „der Stilling“ ähnlich wie „die Dietrich“ oder „der Schiller“, „der King“ auf den hohen Bekanntheitsgrad schließen lässt, die der hochgebildete Universalgelehrte in der Literatur- und Wissenschaftsszene mittlerweile bereits erreicht hat. Zum Zeitpunkt seiner Ankunft in Kassel im Haushalt der Brüder Grimm steht er auf dem Höhepunkt seiner abwechslungsreichen und vielseitigen Karriere: Angefangen als Schulmeister in einer kleinen Gemeinde im Siegerland operierte er später als praktischer Arzt erfolgreich den grauen Star, war Professor an der "Staatswirtschafts Hohen Schule" der Universität Heidelberg als auch Professor für Ökonomik in Marburg und lebt nunmehr seit drei Jahren (seit 1806) als Großherzoglicher Badischer Geheimrat in Karlsruhe. Dies sind nur ein paar Etappen in einem bewegten Leben. Etliche wissenschaftliche, literarische und religiöse Abhandlungen hat Jung-Stilling zudem publiziert und pflegt zahlreiche Beziehungen mit angesehenen und bekannten Zeitgenossen wie z. B. Herder und Goethe. Ob sich die Brüder Grimm und Jung-Stilling auch einmal persönlich kennengelernt haben, das ist eher unwahrscheinlich, denn als die Brüder zum Studium nach Marburg zogen, war Jung-Stilling schon auf dem Sprung in Richtung Heidelberg.

Text: Susanne Thomas
(Infos zu den mit * markierten Passagen sind in den Literaturhinweisen zu finden)

Johann Heinrich Jung, genannt Stilling - ein Porträt

Johann Heinrich Jung, genannt Stilling - ein Porträt

Eine Biografie macht Karriere

Auf alle Fälle scheinen Jacob und Wilhelm Grimm „den Stilling“ herbei gesehnt zu haben, aber warum? Eine Lebensbeschreibung ist in erster Linie kein Märchen, keine Sage, zumindest gehört sie eigentlich nicht diesen Genres an. Gleichwohl man sich bewusst machen sollte, dass ein Biograf oftmals dahin tendiert - je nach Autorentyp und Intention - sich oder jemand anderen zu verkaufen, zu vermarkten, zu rechtfertigen oder durch einen wie auch immer gefärbten Filter beschauen zu lassen.

Natürlich ist auch die Lebensbeschreibung von Jung-Stilling nicht ganz objektiv, schließlich ist ihm als Pietist ein gewisses religiöses Sendungsbewusstsein zu eigen. Den ersten Teil seiner Lebensbeschreibungen schrieb er 1772 eigentlich für seine Studienfreunde mit der Absicht, diese in ihrem Glauben zu unterstützen. Niemand geringeres als sein Freund Johann Wolfgang von Goethe höchstpersönlich hat eine Abschrift der Lebensbeschreibung noch einmal leicht gekürzt und unter dem Titel „Henrich Stillings Jugend“ angeblich ohne das Wissen des Autors 1777 in Berlin drucken lassen.* Wenn auch die Ortsnamen und der Eigenname in seiner Lebensgeschichte verschlüsselt sind** und er sich selbst statt Heinrich Jung als Stilling bezeichnete – warum, ist anscheinend noch nicht abschließend geklärt – so war er doch ziemlich schnell als Autor entlarvt. Die Biografie traf beim Publikum den Nerv (der Zeit), weitere Lebensbeschreibungen folgten Heinrich Stillings Jünglingsjahre (1778), Heinrich Stillings Wanderschaft (1778), Heinrich Stillings häusliches Leben (1789), Heinrich Stillings Lehrjahre (1804).

Erzähler mit Leib und Seele

Jung-Stilling präsentiert sich in seinen Lebensbeschreibungen als begnadeter schriftlicher Erzähler, anzunehmen ist, dass er dieses Talent auch in der mündlichen Wiedergabe von Geschichten zum Besten gab. „Des Mittags nach dem Essen sammlete Stilling einen Haufen Kinder um sich her, ging mit ihnen hinaus aufs Feld, oder an einen Bach, und dann erzählte er ihnen allerhand schöne empfindsame Historien, und wenn er sich ausgeleert hatte, so mußten andere erzählen.“ (Jünglingsjahre Kap. 2*).

Schon als Kind ist er sowohl mit Geschichten aus der mündlichen Tradition aufgewachsen als auch mit den antiken Mythen, die ebenfalls einen prägenden Eindruck auf ihn hinterlassen haben „Schwerlich ist die »Ilias«, seit der Zeit, daß sie in der Welt gewesen, mit mehrerem Entzücken und Empfindung gelesen worden. Hektor war sein Mann, Achill aber nicht, Agamemnon noch weniger; mit einem Wort: er hielt es durchgehende mit den Trojanern, ob er gleich den Paris mit seiner Helenen kaum des Andenkens würdigte; besonders weil er immer zu Haus blieb, da er doch die Ursache des Kriegs war. Das ist doch ein unerträglicher schlechter Kerl! dachte er oft bei sich selber. Niemand dauerte ihn mehr als der alte Priam. Die Bilder und Schilderungen des Homers waren so sehr nach seinem Geschmack, daß er sich nicht enthalten konnte, laut zu jauchzen, wenn er ein so recht lebhaftes Wort fand, das der Sache angemessen war; damals wär' die rechte Zeit gewesen, den Ossian zu lesen.“ (Jünglingsjahre Kap. 3) Während seiner Zeit als Schulmeister in Hilchenbach-Lützel („Zellberg“) hatte er die Gelegenheit, sich diesen Geschichten mit Leib und Seele widmen zu können. Er lies auch seine Schüler an seiner Begeisterung teilhaben, indem er das Erzählen als Vermittlungsmethode einführte und damit bei den Schülern gut ankam:

„Heinrich Stillings Schulmethode war seltsam, und so eingerichtet, daß er wenig oder nichts dabei verlor. Des Morgens, sobald die Kinder in die Schule kamen, und alle beisammen waren, so betete er mit ihnen, und katechisierte sie in den ersten Grundsätzen des Christentums, nach eigenem Gutdünken ohne Buch; dann ließ er einen jeden ein Stück lesen, wenn das vorbei war, so ermunterte er die Kinder den Katechismus zu lernen, indem er ihnen versprach schöne Historien zu erzählen, wenn sie ihre Aufgabe recht gut auswendig können würden; während der Zeit schrieb er ihnen vor, was sie nachschreiben sollten, ließ sie noch einmal alle lesen, und denn kam's zum Erzählen, wobei vor und nach alles erschöpft wurde, was er jemals in der Bibel, im Kaiser Oktavianus, der schönen Magelone, und andern mehr gelesen hatte; auch die Zerstörung der königlichen Stadt Troja wurde mit vorgenommen. So war es auf seiner Schule Sitte und Gebrauch von einem Tag zum andern. Es läßt sich nicht aussprechen mit welchem Eifer die Kinder lernten, um nur früh ans Erzählen zu kommen; waren sie aber mutwillig, oder nicht fleißig gewesen, so erzählte der Schulmeister nicht, sondern lasen selbsten“ (Jünglingsjahre Kap 4).

Offensichtlich war sich der Dorflehrer um die Wichtigkeit des Erzählens als kulturelle Technik für Bildung und Erziehung durchaus bewusst.

Jung-Stilling war bei den Kinder beliebt und die Eltern der Kinder waren offensichtlich ebenfalls rundum zufrieden mit Ihrem Dorflehrer. Nur dem Pastor war er ein Dorn im Auge und musste schlussendlich auf dessen Einwirken hin die Dorfschule verlassen. Stilling widmete sich eine Zeit lang wieder dem väterlichen Schneiderhandwerk, bis er dann kurz vor Weihnachten ein Stellenangebot nach Plettenberg („Dorlingen“) als Privatlehrer des reichen Unternehmers Stahlschmidt („Steifmann“) erhielt.

Die Geschichten in der Geschichte

Inwieweit sich Jacob und Wilhelm Grimm eingehend mit den biografischen Erzählungen von Jung-Stilling auseinandersetzen und Gefallen daran finden, darüber breitet die Geschichte ihr Mäntelchen aus. Ihr persönliches bzw. wissenschaftliches Interesse als Märchensammler gilt eher den Erzählungen als der mutmaßlich mündlichen Tradition in „dem Stilling“. Heinrich Jung-Stilling hat einige Sagen und Märchen in seine Lebensbeschreibungen eingestreut, die als Stilmittel in einem ganz bestimmten Erzählkontext wiedergegeben werden. Auch das alles interessiert die Brüder Grimm Brüder wohl nicht: Die mündlichen Erzählungen werden aus dem Erzählkontext „herausoperiert“, entsprechend bearbeitet und publiziert.

Trotz des gebotenen kritischen Umgang mit der Art und Weise, wie die Brüder Grimm die Geschichten aus einer Gesamterzählung isolieren, ist es Ihnen zu verdanken, das fast jedes Kind und jeder Erwachsener mindestens eine Erzählung von Jung-Stilling kennt, auch wenn der ursprüngliche Verfasser vielen gewiss unbekannt ist:

Die Sage vom Raubritter Johann Hübner, das Märchen von Jorinde und Joringel, das Gleichnis vom alten Großvater und seinem Enkel, "Das Fräulein vom Kindelsberg". Wer übrigens einmal auf dem Altenberg spazieren gegangen ist, ob bei Sonnenschein oder bei Nebel, der wird sich auch heute im Zeitalter der Digitalisierung dem sagenhaften Zauber der Landschaft nicht entziehen können. Und haben nicht die alten Märchen auch einen wahren Kern? Wer genau hinschaut und -hört, der wird den Kern vielleicht irgendwo in der Tiefe der Geschichten entdecken und herausschälen können.




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Die Geschichten in der Geschichte
Jorinde und Joringel, Das Fräulein vom Kindelsberg - die Sagen und Märchen im "Stilling" sind hier zu finden
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