Komm nach Hagen...

werde Pop-Star, mach dein Glück

„Komm nach Hagen, werde Pop-Star, mach dein Glück“

Fernuniversität, bedeutender Standort der Stahlindustrie, wichtiger Bahnknotenpunkt oder vielleicht noch dank dem Mäzen Karl Ernst Osthaus Magnet für stilprägende Architekten wie Henry van der Velde. Diese Bilder und Begriffe keimen, mal mehr oder weniger auf, wenn man an Hagen denkt. Dabei klafften ohne „das Tor zum Sauerland“ im Radioprogramm riesige Lücken.

"In Hagen ist die Hölle los"

Die Wenigsten denken an die Großstadt am südöstlichen Rand des Ruhrgebiets, wenn sie den Klassiker wie „99 Luftballons“ oder den erfolgreichen Hit „Vom selben Stern“ mitsummen. Klar, Nashville gilt als Zentrum der Countrymusik, in dem Musikgiganten wie Johnny Cash groß wurden. Und „mit 18 rannt' Westernhagen in Düsseldorf rum“. BAP oder die Höhner gehören zu Köln wie der Dom. Die Söhne Mannheims… So könnte man die Reihe bekannter Musiker und ihre enge Verbindung zu ihrer Heimat noch seitenweise fortsetzen.
Dass zwei der erfolgreichsten deutschen Sängerinnen und Songwriterinnen nicht ihre Wurzeln in Hagen haben, dürfte gerade den jüngeren Musikfans eher unbekannt sein. Ganz zu schweigen davon, dass der Aufstieg von Nena oder Annette Humpe hinter „Ich+Ich“ ohne die ehemalige Schwerindustriestadt undenkbar wären, genauso wie der Durchbruch der Neuen Deutsche Welle (NDW).
Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger entwickelte sich die Stadt zur Dampfmaschine der jungen Musikrichtung. Sie brachte Hits wie „Hurra, hurra, die Schule brennt!“ hervor, die sich in das kollektive Musikgedächtnis der Deutschen einbrennen sollten.
„In Hagen ist die Hölle los“, lautete die Titelgeschichte des damaligen Sprachrohrs der jungen Generation - der Bravo.

Mehr als 99 Luftballons

Wie konnte eine solche Musikszene außerhalb der mächtigen Kulturzentren entstehen und sogar über die Grenzen der Republik eine solche Strahl- und Anziehungskraft entwickeln?

Vor allem Charaktere und deren Verbindungen zueinander waren ausschlaggebend. Heike Wahnbaeck, heute eine junggebliebene Senioren, die mehr Frische auf Fotos ausstrahlt als so manche 16jährige, hält die Erinnerungen als damalige Insiderin wach. Sie lernte einen Bassisten kennen und lieben, der Bassist in einer der zeitweise beliebtesten Bands in der Bundesrepublik war: Wolfgang Jäger, oder einfach „Hunter“ genannt. Ihr späterer Ehemann wechselte von den Krautrockern „Grobschnitt“ zu den „Stripes“, schließlich zu „Extrabreit“, von denen Hits wie eben „Hurra, hurra, die Schule brennt!“ stammen. „Komm nach Hagen, werde Pop-Star, mach dein Glück“, damals von Sänger und späterem Cartoonisten Kai Havaii mit klarer Ironie gesungen, sollte sinnbildlich für die Musikszene der Stadt stehen.

So war Nena vor ihrem Durchbruch Mitglied der „Stripes“. Und ihren Band-Gitarristen und Co-Autoren von Welt-Erfolgen wie „99 Luftballons“, Carlo Karges, lernte sie in Hagen über „Extrabreit“ kennen, bei der er bis 1981 mitgewirkt hatte. Das Fundament für die nachhaltige Entwicklung wurde schon in den Sechzigern gelegt, weiß der Professor Dr. Frank Hildebrandt, der an der Fernuniversität Hagen zum Aufstieg der NDW forscht. Für den Soziologen gilt als Keimzelle für die regionale Musik-Szene das Jugendzentrum Kultopia, das bereits 1963 eröffnet hatte. Hier fanden Jugendliche Entfaltungsraum für ihre musikalischen Ambitionen. „Höchst ungewöhnlich“ für die damalige Zeit, laut dem Wissenschaftler. Innerhalb von zehn Jahren mauserte sich die Einrichtung zur Blaupause für zahlreiche Nachahmer. In Jugendtreffs, Schulen, Discos und Clubs konnten die sich die Nachwuchs-Musiker ausprobieren und ihr Potential entfalten.
Interview mit den Mitgliedern der Band "Grobschnitt" zu den Anfängen.

Mehr Interviews mit der Band Grobschnitt auf dem Youtube-Kanal unter: https://www.youtube.com/watch?time_continue=7&v=XmOH9VqkdmA

Das Feld für die NDW war bestellt

Die Szene wuchs und wuchs. Man kannte und unterstützte sich, tauchte sich aus und stimmte sich ab, erklärt Heike Wahnbaeck. Besonders die Kneipenszene macht die NDW-Insiderin für die zunehmende Verflechtung der Musiker aus. Hinzu kamen Läden, die Musikern Kredit auf die Anschaffung technischen Equipments gewährten.
Die bereits etablierte Szene und die komfortable Infrastruktur befeuerten sich gegenseitig.
Nena oder die aus Herdecke stammenden Humpe-Schwestern als Frontfrauen von DÖF und Ideal, gelang ihr bis heute andauernder Erfolg später zwar vom geteilten Berlin aus. Doch ohne ihre in Hagen geknüpften Kontakte und Erfahrungen wäre dies undenkbar gewesen.
Text: Daniel Pirker